Das Auge im goldenen Dreieck ist beinahe so etwas wie das Markenzeichen der Markgrafenkirchen. Fast ausnahmslos findet sich hoch oben auf den Altären der Markgrafenkirchen das Symbol für den dreieinen Gott. In St. Laurentius allerdings verdeckt eine Skulptur des auferstandenen Christus das Auge Gottes.
Das allsehende Auge – Bedeutung und Herkunft
Es waren wohl die Türkenkriege, die für die zunehmende Beliebtheit des Symbols ab den 17. Jahrhundert sorgten. Obwohl man sich im Christentum und dem Islam darüber einige ist, dass es nur einen Gott gibt, so haben doch Christen und Muslime völlig unterschiedliche Vorstellungen davon, wie Gott ist. Die Vorstellung, dass Gott dreieinig sein könnte – oder gar Mensch geworden! – ist dem Islam völlig fremd.
Das Dreieck symbolisiert die Dreieinigkeit bzw. Dreifaltigkeit Gottes als Vater, Sohn und Heiliger Geist. Die goldenen Strahlen, die es umgeben, drücken die himmlische Herrlichkeit aus. Die Strahlen werden durch angedeutete Wolken teilweise verdeckt. Die Wolken zeigen, dass Gottes Herrlichkeit in der Welt noch nicht gänzlich sichtbar ist. Dass aber die Strahlen die Wolken durchbrechen zeigt, dass nichts und niemand Gott aufhalten kann. Gott wird sich durchsetzen, bis seine Herrlichkeit in jeden Winkel der Erde vorgedrungen ist. Im Zentrum des Dreiecks befindet sich das Auge Gottes. In manchen Markgrafenkirchen finden sich hier auch bildhafte Darstellungen von Gott Vater, Sohn und Heiligem Geist oder der Name Gottes in hebräischer Schrift. Am häufigsten aber ist das allsehende Auge. »Gott blickt liebevoll vom Himmel auf dich herab – er sieht dich und deine Not.« Das war es wohl, was die Künstler mit diesem Bild zum Ausdruck bringen wollten.
Das allsehende Auge in St. Laurentius – vom Blickfang zum toten Winkel
Wie in fast allen Markgrafenkirchen blickte auch in Wonsees einst Gottes Auge auf die Gottesdienstbesucher herab. Als 1727 der Kanzelaltar in St. Laurentius eingebaut wurde, befand sich an seiner höchsten Stelle das allsehende Auge Gottes umgeben von goldenen Strahlen. Der Altar war damals allerdings noch wesentlich schlichter. Die Bemalung fehlte, ebenso einige der Säulen. Auch sämtliche Figuren, die den Altar heute zieren, waren damals noch nicht vorhanden.
Für 40 Jahre war das Auge Gottes, das aus dem Himmel herabblickt, der Blickfang eines jeden Gottesdienstbesuchers. In der Zeit von 1770−73 wurde der Altar allerdings komplett überarbeitet. Damals erhielt er seine heutige Gestalt. Sämtliche Figuren, die Bemalung und zahlreiche künstlerische Details wurden ergänzt. Auf dem sog. Schalldeckel, also dem Dach der Kanzel, wurde ebenfalls eine Figur angebracht. Hier steht nun der auferstandene Christus. In seiner Hand hält er die rotweiße Siegesfahne. Sie symbolisiert den Sieg Christi über Sünde und Tod. Seither ist der Auferstandene der Blickfang eines jeden Gottesdienstbesuchers. Das allsehende Auge wird komplett von Christus verdeckt. Nur wer den Altar von der Seite betrachtet, kann es noch erkennen.
Was hat man sich wohl dabei gedacht, das Wahrzeichen der Markgrafenkirchen zu verdecken? Das Bild vom triumphalen Gott, der fern im Himmel thront, hat in der evangelischen Frömmigkeit keinen rechten Platz. Im Zentrum des evangelischen Glaubens steht seit jeher Jesus Christus, der für die Sünden der Menschen gestorben ist. Seine Auferstehung zeigt, dass Gott Sünde und Tod besiegt hat. Sie zeigt aber auch, dass die Menschen Erlösung brauchen. Die evangelischen Christinnen und Christen sind sich bewusst, auf sich alleine gestellt, könnten sie in Gottes Gericht nicht bestehen.
Für viele Menschen muss das allsehende Auge also auch bedrohlich gewesen sein: »Gott blickt auf mich herab, kennt jede meiner Taten und weiß alle meine Gedanken. Keine Sünde ist ihm verborgen.«
Christus vor dem allsehenden Auge − Bild gewordene Theologie
Wenn Menschen Angst vor Gottes Gericht hatten, empfahl ihnen Luther stets: »Schau auf Christus! Da siehst du deine Erlösung.«Der auferstandene Christus vor dem allsehenden Auge ist ein Sinnbild der evangelischen Theologie: Zwischen dem richtenden Gott und dem einzelnen Menschen steht Christus. Der richtende Gott sieht nicht auf die Menschen, sondern auf Christus: Um Christi willen wird er die Menschen freisprechen. Die Menschen wiederum blicken nicht auf den fernen Gott. Sie blicken auf Christus, den Mensch gewordenen Gott, der sie erlöst hat.
Es kann also gar nicht anders sein, als dass das allsehende Auge irgendwen anders sieht als allein Christus. Ebenso kann es gar nicht anders sein, als dass Jesus Christus das allsehende verdeckt für die Blicke seiner Gemeinde.